Die Autorität der Naturwissenschaft wird oft missbraucht, um die eigene Meinung zu stützen oder ein neues Produkt zu vermarkten. Doch die Stärke von Beobachtungen und Experimenten liegt im Gegenteil: Im Widerlegen von Vorurteilen. Bei einer Diskussion um die gute Ernährung wird schnell eine Studie gezückt. Wer keine Studie in der Tasche hat, steht dumm da – egal wie absurd die vom Gegenüber präsentierte Schlussfolgerung ist.
Sobald Studie auf Gegenstudie trifft, ist die Debatte wieder auf Feld Eins zurück: Glaubenskrieg. Die gesamte Studienlage auszuwerten ist eine Knochenarbeit, selbst ein eigenes wissenschaftliches Gebiet […]. Da die meisten Laien die nötige Zeit nicht haben, um sich das nötige Vorwissen anzueignen, die Methoden zu verstehen, bleibt ihnen letzten Endes nichts anderes übrig, als sich auf die Experten eines Gebietes zu verlassen. Diese kennen die Studienlage, wissen über die üblichen Mängel der Studien in ihrem Gebiet Bescheid und verfolgen die aktuelle Diskussion darüber.
Das Expertentum
Das Expertentum widerspricht leider den demokratischen Idealen eines mündigen Staatsbürgers, entspricht aber der Realität unserer hochspezialisierten und globalisierten Gesellschaften. Man muss die Sprache des jeweiligen wissenschaftlichen Gebietes verstehen, Zugang zu den relevanten Informationen erhalten und die nötige Zeit haben, sich in ein Gebiet einzulesen. Das trifft nicht nur bei den Naturwissenschaften zu, sondern auf sämtliche Berufsgattungen.
Hinter der Unterscheidung von Experten und Laien lauern natürlich große Gefahren. Die Laien müssen den Experten blind vertrauen. Sie heben Experten in den Status von Genies oder gar Göttern, schalten ihr eigenes Denken ab. Die »Götter in Weiß« in unserem Gesundheitswesen sind eine Katastrophe für die Medizin. Wobei beide Seiten ihren Anteil an diesem Zerrbild haben. Dies entmündigt die Patienten und bürdet den Ärzten eine unmenschliche Verantwortung auf.
Gegenwärtig werden die Ärzte von ihrem Sockel gestoßen. Das zunehmende medizinische Wissen, das für einzelne Ärzte kaum zu überblicken ist, die Zugänglichkeit der Information für Patienten via Internet und ein gestiegener Druck nach Transparenz machen den Beruf des Arztes komplexer. Heute müssen Ärzte zeigen, warum sie das Vertrauen der Patienten verdienen. Gerd Gigerenzer, deutscher Psychologe und Experte für Risikokommunikation, fordert deshalb einen Übergang in eine positive Fehlerkultur. Anstatt Fehler wegen des Reputationsrisikos zu verschweigen, sollte offen darüber diskutiert und daraus gelernt werden, wie dies in der Luftfahrt üblich ist.
Dies sollte auch für die Naturwissenschaftler gelten – besonders, wenn sie in Behörden arbeiten. Sie müssen ihre Entscheidungsgrundlagen transparent machen und zeigen, wie sie die Fülle an Studien zusammenfassen, nach welchen Kriterien sie Studien bewerten. Damit die Laien vertrauen können, muss die Arbeitsweise der Experten offen sein. Sie müssen zeigen, dass sie nicht über magische Kräfte verfügen, sondern nach nachvollziehbaren Kriterien urteilen.
Naturwissenschaftliche Ikonen
Wie Ärzte sind auch Naturwissenschaftler wie Albert Einstein oder Charles Darwin zu Ikonen geworden. Das populäre Bild von ihnen hat nicht viel mit ihren wahren Persönlichkeiten zu tun. Einstein zum Beispiel wird als genialer Spinner porträtiert – mit ausgestreckter Zunge und zerzausten Haaren – und ihm werden viele komische Zitate in den Mund gelegt. Einstein war zwar tatsächlich sehr kreativ und produktiv, befand sich, was die Quantenphysik angeht, aber eindeutig auf dem Holzweg. Darwin legte zwar die bis heute eindrückliche Basis für die Evolutionstheorie, machte als Geologe aber einen »groben Fehler« bei der Interpretation einer Erscheinung des schottischen Tals Glen Roy, wie er aber erst Jahre später eingestand.
Leider befördern bis heute viele Naturwissenschaftler mit ihrer weltfremden Sprache den Mythos der einsamen Genies, denen man blind vertrauen muss. Ihr Beitrag an die Gesellschaft und die Rechtfertigung, von dieser finanziert zu werden, wäre aber eine klare Kommunikation. Damit könnten sie zeigen, dass andere aus ihren Resultaten dieselben Schlussfolgerungen ziehen würden.
Aufrichtige Suche nach der Wahrheit
Was die Berufsgattung des Naturwissenschaftlers ausmacht – oder zumindest ausmachen sollte, ist das Interesse für die Wahrheit. Obwohl dieses Interesse wohl allen Menschen gegeben ist, genießt es nicht bei allen die gleiche Priorität. Andere wollen lieber die Welt lenken, den Mitmenschen in Notlagen helfen oder andere mit Schönheit verzücken.
Leider hat sich um den Begriff der Wahrheit eine Aura des Tabus gelegt. Wer von Wahrheit spricht, wird oft entweder als Einfaltspinsel betrachtet, der nicht versteht, dass Wahrnehmung und Denkvermögen unvollkommen sind. Oder dem Verfechter der Wahrheit wird Arroganz vorgeworfen, er wolle sein Weltbild allen andern überstülpen. Oft werden die naiven An-die-Wahrheit-Glaubenden mit dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel konfrontiert. Dieser habe 1931 gezeigt, dass nicht einmal die Mathematik wirklich wahr sei – oder so ähnlich. Dabei hatte Gödel mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz lediglich bewiesen, dass Mathematiker nicht durch Automaten ersetzt werden können. Zu seiner Zeit ging man davon aus, dass von wenigen Annahmen ausgehend sämtliche mathematischen Sätze nach einer vordefinierten Logik herleitbar sind. Seit Gödel mit seinem Beweis mit diesem Traum aufräumte, haben die Mathematiker nicht aufgehört, an die Wahrheit ihrer Aussagen zu glauben. Er überzeugte sie jedoch von der Notwendigkeit ihrer Kreativität bei der Suche nach neuen Erkenntnissen.
Wahrheit und Naturwissenschaft
Unter Philosophen wird leidenschaftlich über die Definition von Wahrheit gestritten. Welche Kriterien muss eine Aussage erfüllen, damit sie wahr ist? Darf sie anderen Aussagen in einer Theorie nicht widersprechen? Muss die Theorie der Praxis entsprechen? Dies sind nur einige von vielen weiteren Kriterien.
Zwei Namen sind zentral, wenn über den Wahrheitsgehalt von Naturwissenschaften diskutiert wird: Karl Popper und Thomas Kuhn. Der österreichisch-britische Philosoph Popper ist für das Beispiel mit den Schwänen bekannt. Wer in seinem Leben ausschließlich weiße Schwäne gesehen hat, kann daraus nicht schließen, alle Schwäne seien weiß. Wer aber nur einen einzigen schwarzen Schwan gesehen hat, kann mit absoluter Sicherheit verneinen, dass alle Schwäne weiß sind. Dieses Falsifikationsprinzip sah Popper in seinem Buch Logik der Forschung als einzige Möglichkeit, sich der Wahrheit anzunähern. So überzeugend dieses Argument ist, so wenig wird es in der Naturwissenschaft direkt angewandt. Die Hypothesen (weiße Schwäne) gelten als wahr, solange sie nicht widerlegt sind (schwarzer Schwan). Es ist ein Ideal, wonach ein Naturwissenschaftler seine Hypothese mit allen Mitteln zu widerlegen versucht. In der Praxis versucht er nur, seine Kollegen zu überzeugen.
Der Begriff des Paradigmenwechsels
Das sah auch der Wissenschaftssoziologe Kuhn so. Er ist berühmt für den Begriff des Paradigmenwechsels, den er 1962 in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bekannt machte. Kuhn legte seinen Schwerpunkt auf die Gemeinschaft der Naturwissenschaftler und nicht auf ihre Denklogik. Dem Sozialwissenschaftler zufolge gleicht die Naturwissenschaft dem Lösen von Rätseln. Die Fakten werden entsprechend den gängigen Theorien – dem gegenwärtig gültigen Paradigma – zusammengesetzt. Mit der Zeit schleichen sich jedoch immer mehr Widersprüche ein. Diese Popperschen schwarzen Schwäne bringen die Theorie aber erst dann zum Einstürzen, wenn nicht mehr genug Behelfstheorien gezimmert werden können und die Situation dadurch unhaltbar wird.
Dann wird die Normalwissenschaft von einer wissenschaftlichen Revolution erschüttert. Wie bei einer optischen Täuschung ändert sich die Wahrnehmung der Faktenlage schlagartig. Revolutionär soll die kopernikanische Wende vor sich gegangen sein. Dass sich sämtliche Gestirne um die Erde drehten, konnte auch lange nach Kopernikus mit Behelfstheorien aufrechterhalten werden. Dieses alte ptolemäische Weltbild ist nicht durch einen schwarzen Schwan zu Fall gebracht worden, sondern wurde langsam immer unhaltbarer, erst nachdem die vielen schwarzen Schwäne nicht mehr übersehen werden konnten. So soll auch die Newtonsche Gravitationstheorie von der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie abgelöst worden sein. Was Kuhn dabei vernachlässigte, ist, wie zum Beispiel die Newtonsche Gravitationstheorie immer die Theorie der Wahl ist, wenn es darum geht, die Flugbahn eines Artilleriegeschosses zu berechnen. Die Relativitätstheorie ist eine Verallgemeinerung der Gravitationstheorie, die dazu auch noch die Bahn eines Lichtstrahls in der Nähe eines Schwarzen Loches berechnen kann.