„Der Wunsch, die Welt verstehen zu wollen, ist so alt wie die Menschheit; wir suchen nach Erklärungen, benötigen Halt und Orientierung. Aus jenen Annahmen und Überzeugungen, die uns plausibel erscheinen, formen wir Weltbilder, unsere persönlichen Vorstellungen über die Beschaffenheit des Universums. Ein religiöser Mythos, wie die hinduistische Auffassung, dass der Kosmos auf dem Rücken von vier Elefanten ruht, kann ebenso Teil eines Weltbildes sein wie das Standardmodell der Elementarteilchenphysik oder ein unerschütterlicher Glaube an den Marxismus. Keine dieser Ideen ist lächerlich, sie alle beruhen auf nachvollziehbaren Überlegungen. […]
Mit der Zeit haben sich eine Reihe zentraler Theorien und Ideen herausgeschält, die den heutigen Wissenschafts- und Politikbetrieb prägen. Gleich, ob wir sie nun persönlich für richtig halten oder nicht, diese herrschenden Meinungen haben Einfluss auf unser tägliches Leben – und das mehr, als uns oftmals bewusst ist. Viele kennen wir zumindest dem Namen nach: die allgemeine Relativitätstheorie, die Evolutionstheorie, die „Kritik der reinen Vernunft“ oder den ökonomischen Liberalismus. Unsere Vorstellungen, was sich dahinter genau verbirgt, bleiben dabei allerdings oftmals vage.
Dieses Buch möchte einen Überblick zu geben. Welche zentralen Lehrmeinungen bestimmen unser heutiges Weltverständnis? Was sagen sie im Kern aus? Wie sind sie entstanden und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Dazu betrachten wir im ersten Teil die Welt zunächst aus naturwissenschaftlicher Sicht. Im Wesentlichen beruht unser heutiges Naturverständnis auf vier erklärmächtigen Theorien: Newtons Mechanik, der allgemeinen Relativitätstheorie, der Quantenphysik und der Evolutionstheorie. Zusammen erlauben sie uns, die Geschichte des Universums als Abfolge einer physikalischen, einer chemischen und schließlich einer biologischen Entwicklung zu verstehen. In allen Fällen geht es dabei allein um die Frage, „wie“ etwas ist.
Ein entwickeltes Bewusstsein, die jüngste Errungenschaft der biologischen Evolution, bleibt auf der Erde allein dem Menschen vorbehalten. Im zweiten Teil des Buchs betrachten wir die Konsequenzen, die sich aus dieser Besonderheit ergeben. Das Wissen um die eigene Existenz ist die Grundlage der kulturellen Evolution, ein Mechanismus, der eine im Vergleich zur biologischen Entwicklung atemberaubende Dynamik in Gang gesetzt hat. Anders als in den Naturwissenschaften ist die Anzahl der geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorien allerdings kaum zu überschauen. […]
Die Auswahl der in diesem Buch vorgestellten Theorien ist somit zwangsläufig subjektiv. Sie orientiert sich primär an der faktischen Wirkmacht, die diese Ideen im Lauf der Menschheitsgeschichte entfaltet haben. […]
,Wer ernsthaft die Wahrheit der Dinge ergründen will, darf sich keiner einzelnen Wissenschaft verschreiben, denn alle Teile der Wissenschaft stehen im Verbund wechselseitiger Abhängigkeit‘. Leider findet dieses Zitat des französischen Philosophen René Descartes im heutigen Schulbetrieb keine wirkliche Berücksichtigung – von unserer hochgradig spezialisierten Arbeitswelt ganz zu schweigen. Die Schule hat zwar den Anspruch, uns mit allen wichtigen Wissensgebieten vertraut zu machen, doch werden dabei meist weder Wesen noch Zusammenhänge der Einzeldisziplinen deutlich. Auch dass unsere heutigen Welterklärungsmodelle nicht vom Himmel gefallen sind, sondern vorläufige Ergebnisse einer Entwicklungsgeschichte darstellen, wird kaum vermittelt: Ohne Ptolemäus kein Kopernikus; ohne Kopernikus kein Kepler; ohne Kepler kein Newton; ohne Newton kein Einstein. […]
Dieses Buch hat sich vorgenommen, diesen Entwicklungen und Verbindungen etwas mehr auf den Grund zu gehen.“
Aus: Jens Bott, Was wir von der Welt wissen sollten, 9783527353613
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