
Robert Koch zählt zu den bedeutendsten Medizinern des 19. Jahrhunderts. Mit der Entdeckung des Milzbranderregers (Bacillus anthracis) und der Isolierung des Tuberkulosebakteriums (Mycobacterium tuberculosis) legte er den Grundstein für die moderne Bakteriologie. Auch bei der Bekämpfung der Cholera in Hamburg 1892 zeigte er organisatorisches Geschick: Trinkwasser wurde abgekocht, Schulen wurden geschlossen, Versammlungen untersagt und Sandfilteranlagen in Rekordzeit errichtet.
Der erste „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“
Um 1890 war Kochs Labor in Berlin das Zentrum der Infektionsforschung. Einer seiner bedeutendsten Mitarbeiter war Emil von Behring, der mit Shibasaburo Kitasato die Serumtherapie gegen Diphtherie und Tetanus entwickelte – ein Durchbruch, der Behring 1901 den ersten „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“ einbrachte.
Ein neues Mittel gegen Tuberkulose?
Koch selbst präsentierte 1890 auf einem internationalen medizinischen Kongress in Berlin ein neues Mittel gegen Tuberkulose: Tuberkulin. Die Substanz, ein Extrakt aus abgetöteten Tuberkulosebakterien, wurde als Serumtherapie vorgestellt – angeblich mit heilender Wirkung. Die Öffentlichkeit war begeistert, doch bald stellte sich heraus: Tuberkulin war kein Heilmittel. Es hatte bestenfalls diagnostischen Nutzen, konnte aber bei falscher Anwendung schwere Nebenwirkungen verursachen.
Koch hatte seine Ergebnisse voreilig veröffentlicht, ohne ausreichende klinische Studien. Einige Patienten starben, bei anderen verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand dramatisch. Zeitgenossen warfen ihm vor, wissenschaftliche Standards missachtet zu haben. Der Skandal war perfekt – und wurde von manchen sogar als „Schwindel“ bezeichnet.
Der Tuberkulin-Skandal
Trotz dieses Rückschlags bleibt Kochs wissenschaftliches Vermächtnis unbestritten wertvoll. Seine Arbeiten zur Ätiologie von Infektionskrankheiten, seine Entwicklung von Färbemethoden und seine Postulate zur Identifikation von Krankheitserregern prägen die Medizin bis heute. Tuberkulin wird inzwischen erfolgreich als Diagnostikum eingesetzt – ein indirekter Erfolg, der Kochs ursprüngliche Vision zumindest teilweise einlöste. Der Tuberkulin-Skandal zeigt jedoch eindrücklich, wie eng wissenschaftlicher Fortschritt und Irrtum beieinanderliegen können – und wie wichtig es ist, auch die Veröffentlichungen großer Namen kritisch zu hinterfragen. Kochs Fall ist Mahnung und Inspiration zugleich: für wissenschaftliche Sorgfalt, aber auch für den Mut, neue Wege zu gehen.
Wenn große Namen irren – weitere Beispiele
Robert Kochs Irrtum ist kein Einzelfall. Auch andere Wissenschaftler haben umstrittene Methoden angewandt oder gefährliche und schlichtweg falsche Ideen propagiert. Hier zwei weitere Fälle – und ein positives Gegenbeispiel:
Linus Pauling und das Vitamin-C-Dogma
Der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling – diese Ehre war zuvor nur Marie Curie zuteil geworden – war ein Gigant der Wissenschaft; bis er sich in den 1970er Jahren auf einen Kreuzzug für Vitamin C begab. Pauling war überzeugt, dass hohe Dosen des Vitamins nicht nur Erkältungen lindern, sondern auch Krebs heilen könnten. Er nannte das „orthomolekulare Medizin“. Doch seine Studien waren methodisch schwach, seine Schlussfolgerungen voreilig. Die medizinische Fachwelt blieb skeptisch, weitere klinische Studien konnten seine Behauptungen nicht bestätigen. Dennoch hielt Pauling bis zu seinem Tod 1994 an seiner Überzeugung fest – und beeinflusste damit Millionen von Menschen weltweit. Sein Fall zeigt: Selbst brillante Köpfe können sich verrennen, wenn persönliche Überzeugung wissenschaftliche Evidenz überlagert. Pauling bleibt ein Beispiel für die Gratwanderung zwischen visionärem Denken und wissenschaftlicher Selbstüberschätzung.
Trofim Lyssenko – Ideologie statt Wissenschaft
In der Sowjetunion der 1930er bis 1950er Jahre wurde Trofim Lyssenko zur zentralen Figur der Agrarwissenschaft – nicht wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste, sondern wegen seiner Nähe zur politischen Macht. Lyssenko lehnte die moderne Genetik ab und propagierte die Idee, dass umweltbedingte Veränderungen direkt vererbt werden könnten – eine Vorstellung, die im Widerspruch zur Mendelschen Vererbungslehre stand. Unter Stalin wurde seine Lehre zur Staatsdoktrin. Kritiker wurden verfolgt, Genetiker wie Nikolai Wawilow starben in Gefangenschaft. Die Folgen waren katastrophal: Missernten, Hungersnöte und ein jahrzehntelanger Rückstand der biologischen Forschung in der Sowjetunion. Lyssenkos Fall ist ein extremes Beispiel dafür, wie politische Ideologie wissenschaftliche Erkenntnis unterdrücken kann – mit verheerenden Folgen für Gesellschaft und Forschung.
Barry Marshall – Selbstversuch mit Nobelpreis
Ein Beispiel „produktiver Sturheit“ lieferte dagegen der australischer Mediziner Barry Marshall. In den 1980er Jahren herrschte die gängige Meinung, dass Magengeschwüre durch Stress oder Ernährung verursacht würden. Marshall und sein Kollege, der Pathologe Robin Warren, entdeckten jedoch das Bakterium Helicobacter pylori als eigentlichen Auslöser. Da ihre Hypothese zunächst auf Skepsis stieß, entschloss sich Marshall, einen Selbstversuch durchzuführen: Er trank eine Kultur des Bakteriums – und entwickelte prompt eine Magenschleimhautentzündung. Damit bewies er seine Theorie am eigenen Körper. Heute ist die Behandlung von Magengeschwüren mit Antibiotika Standard – und Marshall erhielt 2005 den Nobelpreis. Also: Mut und wissenschaftliche Neugier können sich auszahlen – wenn sie mit methodischer Sorgfalt und präziser Beweisführung einhergehen.